Warum wir unsere Stärken oft nicht erkennen und wie du sie (wieder)entdecken kannst

Viele Menschen, die zu mir ins Mentoring kommen, können sehr genau benennen, was sie alles nicht gut können. Sie kennen ihre Zweifel, ihre Unsicherheiten, ihre vermeintlichen Schwächen. Aber wenn ich sie frage, was sie richtig gut können – also wirklich gut –, dann wird es still. Ein leichtes Schulterzucken, ein vages „Hm, ich weiß nicht…“, manchmal auch ein schiefes Lächeln und der Satz: „Ich glaube, ich kann nichts so richtig.“

Vielleicht kennst du das auch von dir. Vielleicht fällt es dir schwer, deine Stärken zu benennen, weil sie sich nicht besonders anfühlen – sondern eher selbstverständlich. Und vielleicht hast du in deinem Leben auch schon häufig die Erfahrung gemacht, dass du nicht für deine Stärken, deine Besonderheiten gelobt – sondern für deine Andersartigkeit kritisiert wurdest. Weil du „zu intensiv“, „zu sensibel“, „zu verkopft“ , „zu unbequem“ oder „zu widerspenstig“ warst. Daher hast du vermutlich früh gelernt, dass du irgendwie falsch bist. Dass du nicht richtig reinpasst.

Warum wir unsere Stärken oft nicht sehen

Unsere Aufmerksamkeit ist darauf trainiert, Lücken zu erkennen. Im Alltag, im Job, in Beziehungen – überall wird uns gespiegelt, was noch nicht ausreicht, was optimiert werden kann, was „noch nicht perfekt“ ist. Wir lernen von klein auf, an uns zu arbeiten, uns weiterzuentwickeln, uns zu verbessern. Das ist nicht grundsätzlich schlecht – aber es verschiebt unseren Fokus. Denn wenn wir ständig auf das schauen, was (noch) nicht stimmt, übersehen wir leicht das, was längst da ist.

Hinzu kommt, dass unsere eigenen Stärken für uns oft ganz selbstverständlich sind – nicht besonders, nicht erwähnenswert. Sie sind so selbstverständlich, dass wir sie oft nicht mal mehr bemerken. Oder sie erscheinen uns einfach „zu normal“, um besonders zu sein. Vielleicht hast du ein gutes Gespür für Stimmungen im Raum – aber du würdest das nie als Stärke bezeichnen, weil es für dich einfach dazugehört. Oder du kannst gut zuhören, komplexe Gedanken klar strukturieren, Verantwortung übernehmen oder andere motivieren – aber du glaubst, das sei nichts Besonderes.

Hinzu kommt, dass viele von uns in ihrer Kindheit für genau diese Fähigkeiten kritisiert oder nicht gesehen wurden. Wer sensibel war, galt als überempfindlich. Wer reflektiert war, als anstrengend. Wer vielseitig interessiert war, als sprunghaft. Wenn du solche Botschaften verinnerlicht hast, ist es kein Wunder, dass du heute zögerst, das als Stärke zu benennen, was du früher verstecken oder kompensieren musstest.

Vielleicht ist deine vermeintliche Schwäche nur eine Stärke, die du nie so genannt hast

Es geht mir nicht darum, Schwächen schönzureden oder alles positiv umzudeuten. Aber manchmal lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn oft ist das, was wir als Schwäche erleben, nur eine Form einer unentfalteten Stärke.

Vielleicht ist deine Zögerlichkeit eigentlich ein feines Gespür für Timing.

Vielleicht ist dein Rückzug ein gesunder Selbstschutz, der dir Halt gibt.

Vielleicht ist dein Bedürfnis nach Kontrolle ein Ausdruck von Verantwortungsgefühl.

Vielleicht ist deine hohe Sensibilität die Basis für echtes Einfühlungsvermögen.

Vielleicht ist deine Ungeduld ein Zeichen für schnelle Umsetzungsfähigkeit und schnelles Vorankommen.

Wir müssen unbedingt damit aufhören, uns ständig selbst und gegenseitig „optimieren“ zu wollen. Es geht darum ehrlich hinzuschauen und zu erkennen, was da ist.

Die Stärken-Schatzkiste: Eine Einladung zum Wiederentdecken

Um deinen Stärken auf die Spur zu kommen, kann es hilfreich sein, deine eigene Stärken-Schatzkiste anzulegen.

Sammle diese Worte und alles, was dir einfällt (vielleicht auch persönliche Gegenstände, die dich an deine Stärken erinnern oder Fotos davon) in deiner persönlichen Stärken-Schatzkiste. Das kann eine Liste sein, eine Mindmap, ein kreatives Layout oder eine tatsächliche Kiste – ganz wie es für dich stimmig ist. Denke dabei immer daran: Es geht nicht darum, dich zu verbessern – sondern dich zu erinnern. An das, was dich trägt. An das, was längst da ist. Kein „Was kann ich (noch) nicht?“ – sondern: „Was bringe ich mit?“

Du musst keine Kategorien bilden. Sammle einfach Worte, Sätze, Rückmeldungen, in denen du dich erkennst – oder in denen du dich gern wieder(er)finden möchtest.

Und dann schau dir deine Kiste regelmäßig an – nicht nur mit dem Verstand, sondern vor allem mit dem Gefühl: Was davon berührt dich? Was fühlt sich stimmig an – auch wenn du es dir vielleicht noch nicht voll zutraust?

Und wenn du möchtest, mach ein Ritual daraus. Schau dir deine Schatzkiste vor allem an Tagen an, an denen du zweifelst. Ergänze sie, wann immer du etwas Neues über dich entdeckst. Oder frag jemanden, der dich gut kennt: „Was siehst du in mir, das ich vielleicht nicht sehen kann?“

Fazit: Du musst dich nicht neu erfinden. Du darfst dich wiedererkennen.

Deine Stärken sind vielleicht nicht laut. Vielleicht glänzen sie nicht sofort. Aber sie sind da – in deinem Denken, deinem Fühlen, deinem Tun. Sie tragen dich, auch wenn du sie selbst noch nicht so nennen kannst.

Gerade wenn du dich oft anders fühlst, nicht ganz zugehörig, nicht „normal“ – dann ist es umso wichtiger, deinen eigenen Wert nicht an äußeren Kategorien zu messen. Sondern an dem, was dich innerlich trägt.

Denn was du als Schwäche erlebt hast, war vielleicht nie eine. Vielleicht war es nur eine Kraft, die noch keinen Platz bekommen hat. Und keine Sprache.

Wenn du beim Lesen etwas für dich mitnehmen konntest und dabei an jemanden gedacht hast, dem dieser Beitrag auch guttun könnte – dann leite ihn gern weiter. Und vielleicht magst du auch hier weiterlesen:

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